Kulturerdteile - Diskussion
Das Konzept der Kulturerdteile hat seit seiner Vorstellung, die der Inhaber dieser Homepage zusammen mit Peter Fischer und Karl Heinz Reinhardt in Heft 1/1983 der "Geographischen Rundschau" unter dem Titel "Allgemeine Geographie am Regionalen Faden" veröffentlichte, ein lebhaftes Echo gefunden. Es entwickelte sich daraufhin die größte Diskussion, die in der "Geographischen Rundschau" je zu einem Thema stattgefunden hat.
Zu den Ausführungen von S. F. Huntington über:
Clash of Civilizations - Kampf der Kulturen - und das Konzept der Kulturerdteile
Mit Recht hat E. Ehlers (Kulturkreise - Kulturerdteile - Clash of Civilizations. Plädoyer für eine gegenwartsbezogene Kulturgeographie. GR 48, 1996, S. 338-344.) das Konzept von Samuel F. Huntington
zum "Clash of Civilizations" einer massiven Kritik unterzogen.
Vor allem kann man Huntingtons Zukunftszenarien nicht billigen, die auf der These der unvermeidlichen Konfrontation zwischen Ost und West aufbauen (vergl. auch Interview mit Huntington in dem
Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL: Und dann die Atombombe, Nr. 48, 1996, S. 178 - 186). Hier wird in gewisser Weise ein neuer "Kalter" und schließlich sogar ein "heißer Krieg" herbeigeredet, den man
nach dem Untergang der alten Sowjetunion für endgültig beendet hielt.
Wir dürfen nicht vergessen, daß der Harvardprofessor Huntington ein Institut für Strategische Studien leitet, das u. a. auch die amerikanische Regierung in Sicherheitsfragen beraten hat. Für den
großen Einfluß dieser Einrichtung bzw. ihres Leiters spricht der enge Kontakt zur Zeitschrift "Foreign Affairs", in der der Beitrag "Clash of Civilizations" (Summer 1993) das erstemal veröffentlicht
wurde.
So ist es kein Zufall, daß bei Huntington die Bedeutung der Kulturen bis zu einem gewissen Maße durch den Filter ihrer militärischen Potenz gesehen werden, und folgerichtig kommt der Kulturerdteil
Schwarzafrika besonders schlecht weg. So kann sich der Autor nicht dazu entschließen, Schwarzafrika definitiv als Kulturkreis zu akzeptieren, sondern behilft sich mit Formulierungen wie
"Schwarzafrika vielleicht" bzw. mit dem Hinweis, daß die "meisten großen Kulturtheoretiker mit Ausnahme Braudels keine eigene afrikanische Kultur" anerkennen. Welche Hybris angesichts der
Vielfältigkeit der afrikanischen Kultur und dem bedeutenden Einfluß ihrer Kunst auf die heutige Weltkunst! (vergl. z. B. E. Broszinsky-Schwabe: Kultur Schwarzafrikas, Köln 1988 oder W. Manshard u. J.
Newig: Folienwerk Kulturerdteile, Band Schwarzafrika, Gotha 1998)
Sehr undifferenziert sieht Huntington große Teile Asiens. In dem seinem Buch zugrunde liegenden Orginalaufsatz faßt er viele Gebiete unter "konfuzianisch" zusammen, die gar nicht vom Konfuzianismus
geprägt sind, während er Japan eine Sonderstellung einräumt und das Land fälschlicherweise sich bereits zwischen 100 und 400 n. Chr. aus der chinesischen Zivilisation heraus entwickeln sieht. In
Wahrheit vollzog sich der nachprüfbare chinesische Einfluß in stärkerem Maße erst danach, d. h. ab 400 n. Chr., etwa mit der Einführung der chinesischen Schriftzeichen und später durch die Adaption
weiterer Elemente der chinesischen Kultur bis zur Übernahme des Buddhismus im 6. Jahrhundert, wobei der Shintoismus bis heute seine bedeutende Stellung als ursprüngliche japanische Religion bewahren
konnte.
Immerhin korrigiert sich Huntington hinsichtlich des Konfuzianismus in in seiner Buchausgabe und spricht nun, (wie lange vor ihm A. Kolb) von einer sinischen Kultur, was sicherlich besser, aber eben
auch noch nicht hinreichend ist, denn z. b. das südostasiatische Festland und auch das Tibet und andere Gebiete sind überwiegend buddhistisch geprägt.
Was Lateinamerika angeht, so verhält er sich sehr widersprüchlich. Auf ein und derselben Seite (S. 59) zählt er einmal Lateinamerika mit Nordamerika und Europa zum "westlichen Kulturkreis", um es
dann gleich anschließend als "lateinamerikanisch" gesondert auszuweisen.
Huntingtons Hauptaugenmerk ist im übrigen vorwiegend auf den "Westen" gerichtet, und Kapitelüberschriften wie "Der Westen und der Rest der Welt" bezeugen eine bedenkliche Grundeinstellung.
Schließlich muß man Huntington vorwerfen, daß er die zu diesem Thema vorhandene Fachliteratur nur teilweise zur Kenntnis nimmt bzw. nicht adäquat diskutiert. So fehlt eine Auseinandersetzung mit den
Ansätzen von J. E. Spencer und W. L. Thomas (Introducing Cultural Geography, New York 1973) sowie vor allem mit der deutschen Literatur, z. B. mit dem Konzept von Kolb (Die Geographie und die
Kulturerdteile, in: H.-v.Wissmann-Festschrift, Tübingen 1962, S. 42 - 49).
Trotz dieser kritischen Anmerkungen ist doch zuzugestehen, daß weite Strecken der historischen Analyse Huntingtons durchaus von großem Wert. sind. Das gilt vor allem für seine Einschätzung der
Religionen als wichtigster Träger von Kulturen: "Das ausgehende 20. Jahrhundert hat ein globales Wiedererstarken von Religionen in aller Welt gesehen." (S. 89) Auf diese Weise rehabilitiert er auch
unbeabsichtigt den Ansatz der Kulturerdteile von A. Kolb und verleiht ihm neuen Nachdruck.
Tatsächlich sind die Religionen die Bereiche des normativen Leitsystems mit der größten Akzeptanz in breiten Teilen der Bevölkerung; und sie sind damit gerade auch im Zeitalter der Demokratie, wo
jede Stimme zählt, von besonderer Bedeutung - im Gegensatz etwa zu den Philosphien, die zumeist nur die Oberschicht und die oberen Mittelschichten erreichen.
Das Konzept der Kulturerdteile ist in gewisser Weise ein Gegenkonzept zur vorherrschen ökonomistischen Betrachtungsweise. Wohin letztere führt, haben wir zum Beispiel bei den Geographie-Lehrbüchern
der siebziger Jahre gesehen, als ökonomische Vergleiche - vor allem zwischen den COMECON und der damaligen EWG einen hohen Stellenwert in den Lehrplänen der Oberstufe der allgemeinbildenden Schulen
hatten. Und was ist davon noch von Bedeutung? Wer weiß überhaupt noch, was der COMECON war? Viel Wissen wurde vermittelt, das heute nutzlos ist. Hingegen ist die Vermittlung der großen
historisch-geographischen Strukturen, die das heutige Handeln Rußlands verständlich machen könnten, kaum betrieben worden, obgleich dies ein Inhalt ist, der niemals "veraltet". So sind das Zarenreich
und das Sowjetimperium mit ihrer ganz spezifischen räumlichen Ausdehnung im Bewußtsein des heutigen Russen noch lebhaft präsent, und zwar durchweg positiv besetzt. Und so greift man denn dort
gegenwärtig auf die als solche wahrgenommenen beiden großen Blütezeiten zurück, auch wenn die realen Systeme seinerzeit diametral verschieden waren. So wurde unlängst mit großer Mehrheit beschlossen,
die Melodie der alten Sowjethymne wieder zu etablieren. Den Text schrieb bezeichnenderweise derselbe Schriftsteller Sergej Michalkow (im Alter von 87 Jahren), der seinerzeit schon die alten Hymne
abgeliefert hatte, nur daß jetzt nicht mehr die Macht des Kommunismus, sondern Gott angerufen wird. Die Rote Armee erhielt die Fahne in der Farbe wieder, nach der sie ihren Namen hat, allerdings ohne
Hammer und Sichel, und das Staatswappen enthält nun den zaristischen Doppelalter. Die stolze Symbolik aus der Vergangenheit dürfte dazu beitragen, die Misere der Gegenwart psychisch besser zu
verarbeiten. Wir, insbesondere wir Deutsche, sollten darüber nicht lächeln, sondern uns eher freuen, daß dieser gewaltige Systemzusammenbruch nicht zu einem Weltbrand mit unabsehbaren Folgen geführt
hat, sondern - gestützt auf die Symbole der Vergangenheit - zu einem neuen und hoffentlich auf die Dauer positiven Zustand.
Das Konzept der Kulturerdteile geht im Gegensatz zu demjenigen von Huntington von der Möglichkeit eines friedlichen Wettstreits der Kulturen aus. Es betrachtet alle Kulturen als prinzipiell
gleichwertig, unabhängig von ihrem militärischen oder ökonomischen Einfluß. Die Betrachtungsweise der Kulturerdteile ist nicht auf die Tagespolitik ausgerichtet, sondern auf die „langen Wellen“ der
Entwicklung, die wir auch als "Kulturwellen" bezeichnen können. Während eine Konjunkturwelle nach Kondratiev (N. Kondratiev: The Major Economic Cycles, in: Review of Economic Statictisc 18, November
1935) rund fünfzig Jahre dauert, haben wir es bei den Kulturen mit Zyklen von tausend Jahren oder noch viel mehr zu tun. Aus diesem Grunde ist die angemessene Berücksichtigung der historischen
Dimension eines der Kennzeichen des Konzepts der Kulturerdteile.
Die großen Kulturen haben aufgrund ihrer langen Geschichte ihre eigene Persönlichkeit, ihre eigene Biographie und damit eigenes "Leben" entwickelt. Es gibt auch so etwas wie ein kollektives
Gedächtnis, das bei den Nicht-Schrift-Völkern in Gestalt der Geschichtenerzähler gepflegt wurde und bei den Schriftvölkern in Form von Archiven und Bibliotheken vorliegt.
Die langen Wellen der Entwicklung bringen es mit sich, daß die Kulturerdteile sich einander in der Vorherrschaft der Welt ablösen. Waren es ursprünglich die östlichen Kulturen, dann Europa, so hat
heute Anglo-Amerika die erste Position inne. Hungtington beschwört die Gemeinsamkeiten des "Westens", meint aber vor allem Anglo-Amerika, insbesondere die Vereinigten Saaten. Daß diese Vorherrschaft
nicht ewig währen wird, ist ihm sehr bewußt, und sein ganzer Beitrag ist im Grunde ein Plädoyer für ein Zusammengehen des Westens angesichts drohender Gefahren aus dem Osten.
Nun ist der militärische Zusammenprall der Kulturen keinesfalls zwingend. Rangkämpfe können und werden heute in ökonomischen, sportlichen und anderen Bereichen ausgetragen, d. h. der Kampf wird zum
friedlichen Wettstreit, und dieser ist in der Tat längst im Gange, z. B. in dem traditionsreichen Streit um das höchste Gebäude der Welt, der schon vor dem legendären Turmbau zu Babel begann und über
die großen Kirchen bis zu den Wolkenkratzern der Gegenwart reicht. Lange Zeit führte hier Amerika die Rangliste an, wobei sich Chicago und das moderne Babylon: New York, abwechselten. Den Eintritt in
das pazifische Zeitalter läutete in dieser Hinsicht Malaysia ein - mit den beiden Petronas-Towers des staatlichen Mineralölkonzerns in Kuala Lumpur und ihren 452 m Höhe. Und schon im Jahr 2001 soll
ein weiteres pazifisches Bauwerk, diesmal in China, die Führungsrolle übernehmen. Das 460 m hohe Gebäude erhebt sich gleich einer riesigen Stele in den Himmel, in die ganz oben ein Loch geschnitten
ist, wie ein Amulett zum Aufhängen. Man beachte den Anspruch in seinem Namen: "World Finance Center". Auch der Standort ist symbolträchtig: Shanghai, die chinesische Weltstadt, die Stadt der
kolonialen Demütigung durch den Westen, die Stadt, die im vergangenen Jahrzehnt in einem beispiellosen Bauboom mit Hunderten neuer Hochhäusern erlebte. Nicht wenige Amerikaner fürchten, daß die
asiatischen Börsen eines Tages bedeutender werden könnten als die New Yorker, die wiederum einst die Londoner Börse entthront hatte.
Die hochgradige Vernetzung der Welt aufgrund der neuen Kommunikationsmittel wie Internet und neue Produktionsstrukturen haben zu einer Globalisierung geführt, in der große Kriege keinen Sinn mehr
haben, da man Macht und Einfluß heute auch mit friedlichen Mitteln ausdehnen kann.
Der "Clash of Zivilizations" von Huntington ist trotz der gegenwärtigen Entwicklung nicht die ultima ratio.
Jürgen Newig
neu ins Netz gestellt am 20. 5. 2012