Tourismus
Als gebürtiger Sylter kam ich schon früh mit dem Tourismus und seinen Auswirkungen in Berührung. Meine Eltern vermieteten das Kinderzimmer, in denen wir zu dritt schliefen, im Sommer an Feriengäste. Uns blieben dann Zelte im Garten. Pro Nacht erhielten wir eine Entschädigung von 15 Pfennigen, die Gäste zahlten pro Bett 1,50 Mark, später DM. Bei einem Taschengeld von 30 Pfennigen pro Woche war das für uns eine sehr hohe Einnahme.
Die Gäste waren eine Art Erscheinung von einem anderen Stern. Während wir relativ streng erzogen wurden, durften die Gästekinder eigentlich alles. Wenn sie etwas kaputtgemacht hatten, zahlten die Eltern unaufgefordert eine reichliche Entschädigung. Den Gästen und Gästekindern blieben auch die Sommerfeste der Badeverwaltung vorbehalten. Wir Sylter Kinder standen dann Spalier und bewunderten das hübsche Outfit der Gästekinder. Neidgefühle gab es keine, wußten bzw. spürten wir doch, daß diese Menschen unsere Existenz garantierten. So nahm denn auch kein Einwohner Anstoß daran, daß die Strandkarten der Einwohner nicht zum Betreten der den "Kurgästen" vorbehaltenen Einrichtungen einschließlich des Zentralstrandes galten. Den Einwohnern wurde das Gebiet nördlich und südlich des Zentralstrandes zugewiesen. Das Betreten der Kurpromenade war den Einwohnern natürlich auch untersagt. Es hätte sich aber auch im Sommer kein Einwohner dort blicken lassen dürfen, denn im Sommer bediente man die Gäste und flanierte nicht auf der Promenade zwischen den Kurgästen herum.
Der Tourismus beherrschte auf Sylt alle Lebensbereiche und verdrängte nicht nur die Landwirtschaft nahezu völlig, sondern auch die Industrie. Es ist heute kaum mehr vorstellbar, daß Westerland nach dem Zweiten Weltkrieg (aber auch schon vorher) eine Stadt mit nicht geringem Industrieanteil war. Kunsthonig- und Sahnebonbonfabrikation, Bier- und Limonadenherstellung fallen mir spontan ein. Es entwickelte sich auch ein Großbetrieb mit in der Spitzenzeit rund 800 Mitarbeitern: Die Firma des Erfinders Dr. Bernhard Beyschlag, der nach seiner Vertreibung aus den deutschen Ostgebieten mit seiner Fertigung von Schichtwiderständen für Radiogeräte zuerst in List begann und dann bald eine moderne Fabrikation in Westerland aufnahm. Die Arbeitskräfte waren in der ersten Nachkriegszeit auf Sylt billig, jedoch mit wieder zunehmendem Tourismus
und der dort höheren Stundenlöhne verlor die Fabrik ständig an Mitarbeitern. Diese wurden durch Personal vom Festland substituiert, denn dort um Niebüll herum gab es noch viele Arbeitslose. Diese Pendler merkten rasch, daß sie als Servicekräfte im Tourismus mehr Geld verdienten als bei Beyschlag, und so sah sich die Firma gezwungen, ungewöhnlich hohe Löhne zu zahlen. Eines Tages wurde die Reißleine gezogen. Man siedelte nach Heide in Dithmarschen um, wo die Auswirkungen des Tourismus kaum zu spüren waren.
Dieses Ereignis machte mir klar, daß Tourismus nicht nur Landwirtschaft schlägt, also den primären Sektor, sondern auch die Industrie, den tertiären Sektor. Mit dieser Einsicht begann für mich die Beschäftigung mit der stadtbildenden bzw. Wirkung des Tourismus. Hinzu kam, daß mir immer deutlicher wurde, daß die Verschiebung des Zentralortes der Insel von Keitum nach Westerland, ebenfalls ausschließlich dem Tourismus geschuldet war. Seitdem begann ich mich mit der später dann von mir so benannten "Freizeitzentralität" zu beschäftigen, ein Ansatz, der in der Forschung Beachtung gefunden hat, aber bis heute noch nicht recht in die praktische Raumplanaung durchgedrungen ist, galt es doch früher als Dogma in der Geographie, daß Tourismus nicht zentralitätsbildend sein könne. Das Hauptargument der Gegner war der Hinweis, daß Zentralität aus dem Umland heraus erfolgen müsse, nicht durch Fernwirkungen. Diese klassische Auffassung verkennt jedoch, daß der Tourismus eines Touristenzentrums im Laufe der Zeit auch in die Dörfer der Umgebung überschwappen kann und dort zu erhöhten Nachfragen im Touristenzentrum führt.
Mit diesem Thema beschäftigte sich bereits meine Dissertation im Jahre 1974 mit dem Thema "Fremdenverkehr und Freizeitwohnwesen in ihren Auswirkungen auf Bad und Stadt Westerland auf Sylt" im Jahre 1974 (bei Prof. Dr. Reinhard Stewig), später dann auch die Habilitation, die von Prof. Dr. Otto Fränzle betreut wurde. Nähere Angaben finden sich in meinem Literaturverzeichnis.